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Gedenken 86. Jahrestag der Reichspogromnacht

08. 11. 2024
Sehr geehrter Herr erster Bürgermeister Donhauser,
sehr geehrter Herr Staatssekretär Prof. Popp
sehr geehrte Abgeordnete des Sächsischen Landtages,
sehr geehrte Frau Bürgermeisterin Dr. Kaufmann, Frau Bürgermeisterin Klepsch, Herr Bürgermeister Kühn,
sehr geehrte Mitglieder der Jüdischen Gemeinde zu Dresden und der anderen öffentlichen jüdischen 
und nichtjüdischen Organisationen, unsere langjährigen Freunde,

ich freue mich sehr, Sie heute hier begrüßen zu dürfen.

Besonders freue ich mich auf unsere wichtigsten Gäste: die Jugendlichen der 30. Oberschule, 
des Marie-Curie-Gymnasiums, des Roman-Rolland-Gymnasiums und des Hans-Erlwein-Gymnasium. 

Ich stehe vor einem Dilemma: Ich sehe vor mir viele Gesichter, die ich schon mehrere Jahre kenne. 
Diese Gedenkveranstaltung findet jedes Jahr statt,  und heute ist es schon das 49-ste Mal. Es ist echt schwer, 
jetzt etwas Neues zu sagen. Deswegen werde ich nicht einen so langen Exkurs in die Geschichte der Kristallnacht und Schoa machen. 

Und trotzdem möchte ich ein paar - meiner Meinung nach wichtige -  Gedanken äußern. Ich habe schon mehrmals 
gehört und gelesen, dass manche Historiker und auch Politiker versuchen, die Rolle damaliger Machthaber zu rehabilitieren. 

Wenn wir die Chronologie der Ereignisse der 20-ger – 30-ger Jahre lesen, dann verstehen wir, 
dass die Abfolge der Ereignisse in der Geschichte des Holocaust eine grauenhafte Logik hat. 

Als die Nazis am 30. Januar 1933 an die Macht kamen, ist der Antisemitismus eine Staatsideologie geworden. 
> Seit der „Machtergreifung“ waren die Juden in der Presse drastisch diffamiert worden.
> 1. April 1933 – der Judenboykott 
> Sommer 1935 – die Forderung der Zusammenstellung einer Judenkartei mit markierten jüdischen Vereinen und Kultusgemeinden.
> 1935 – die Nürnberger Rassengesetze
> August 1938 – Das Gesetz über die Jüdischen Namen (Israel und Sara)
> 28. - 29. Oktober 1938 – die Polenaktion

Und als nächster Schritt – die Nacht vom 9. auf 10. November 1938. Das war eine staatlich organisierte 
„spontane“ Aktion des „Volkszorns“. Ich werde jetzt die Zahlen nicht nennen. Wir haben darüber schon so viel gesprochen. 
Wir stehen jetzt in der Nähe der ehemaligen Sempersynagoge, die damals, wie hunderte andere Synagogen auch, zerstört wurde.
Die jüdischen Weisen nannten die Synagoge Mikdash Meat — ein kleiner Tempel. 
Dadurch verliehen sie der Synagoge ein gewisses Maß an Heiligkeit. Die Synagoge ist die Seele der Jüdischen Gemeinde. 
Die Jüdische Seele wurde zerstört und verbrannt. Aber der Davidstern der alten Sempersynagoge hat diese Katastrophe überlebt, 
und das ist bis jetzt für uns ein Wunder und ein lebenswichtiges Symbol. 

Damit Sie nicht denken, dass ich mit diesen Worten etwas übertreibe, zitiere ich jetzt den Rabbiner Israel Meir Lau, 
den ehemaligen Oberrabbiner des Staates Israel, Oberrabbiner der Stadt Tel Aviv, der das Konzentrationslager Buchenwald überlebt hat:Ich, als Holocaustüberlebender, denke erstens, dass jeder von uns, die geschafft haben, den Holocaust zu überleben, sich fragen soll: 
Wie ich das verdient habe, das zu überleben, während andere das nicht überlebt haben? Gibt es vielleicht ein Sinn? 
Soll ich vielleicht was tun?“(Rabbiner Israel Meir Lau) Zitatende.

Dann kommt gleich die Frage: Was können wir tun?
Heute ist diese Frage besonders aktuell. 
Herr Wolfgang Benz hat im Jahr 2000 im Vortrag „Zwischen Antisemitismus und Philosemitismus“ geschrieben:Im Jahr 1998 kam eine Forsa-Umfrage zum Ergebnis, jeder fünfte Deutsche sei latent antisemitisch … 
Deutsche Juden oder jüdische Deutsche hingegen sehen sich oft in einem Rechtfertigungszwang, die eigene Existenz in Deutschland 
vor sich selbst, aber auch gegenüber der Welt politisch, kulturell und sozial zu legitimieren“.
Dann frage ich mich: wieso? Woher kommt dieser Zwang, oder auch die Not, sich zu legitimieren?

Besonders wichtig sind diese Fragen heute. Wir sehen, wie stark heute die politische Polarisierung ist. Und wir wissen ganz gut, 
wie schnell die politische Situation schlimmer werden kann. Aber heute möchte ich keine politische Slogans deklarieren. 
Heute ist die Zeit zum Erinnern. 

Die Kristallnacht ist nur eine Etappe in einer erschreckenden Reihe von Ereignissen.

Wir wissen, was dann passiert ist. Besser als Elie Wiesel kann ich nicht sagen:

Nie werde ich diese Nacht vergessen, die erste Nacht, die aus meinem Leben eine siebenmal verriegelte lange Nacht gemacht hat.


 

Nie werde ich den Rauch vergessen.


 

Nie werde ich die kleinen Gesichter der Kinder vergessen, deren Körper vor meinen Augen als Spiralen zum blauen Himmel aufsteigen.


 

Nie werde ich die Flammen vergessen, die meinen Glauben für immer verzehrten.


 

Nie werde ich das nächtliche Schweigen vergessen, das mich in alle Ewigkeit um die Lust am Leben gebracht hat.


 

Nie werde ich die Augenblicke vergessen, die meinen Gott und meine Seele mordeten, die meine Träume, die das Antlitz der Wüste annahmen.


 

Nie werde ich das vergessen, und wenn ich dazu verurteilt wäre, so lange wie Gott zu leben. 


 

Nie.“

Jetzt ist es für mich unmöglich, weiterzureden. 
Lassen Sie mich nur noch ein wichtigen Gedanken mit Ihnen teilen. 

Ein jüdischer Lehrer wurde von den Schülern gefragt: Ob der Frieden in der Welt möglich ist?“ Nein“ - hat er geantwortet. Dann ist es unmöglich, den Frieden in der Welt zu erreichen?“  Doch“ - hat er geantwortet – „Der Frieden ist kein Ergebnis. Der Frieden ist ein Prozess, 
und der Frieden ist nur mit unseren ständigen Bemühungen erreichbar“

Und noch: Der Frieden ist ein direkter Kontakt zwischen Herz und Herz.“

 

 

Ekaterina Kulakova

Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Dresden

 

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